Andrea Kollmorgens berufliche Laufbahn ist wie bei vielen Führungspersönlichkeiten geprägt von einem Bruch. Denn nach dem Studium begann die Politologin und Ökonomin ihre Karriere bei einem Subprime Hedgefonds. Und fand sich kurz nach ihrem Einstieg im Auge des Orkans wieder – mitten in der Finanzkrise 2008.
„Wir waren ein Team von 20“, sagt sie. „Und eines nachts um halb vier schickt ein Kollege eine E-Mail mit seinen Ideen, wie wir als kleines Unternehmen diese fundamentale wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderung lösen sollten.“ Dieser naiv anmutende Anspruch arbeitete noch am nächsten Tag im Büro in ihr. Um sich abzulenken, den Kopf freizubekommen, ging sie auf einen Kaffee und sah eher beiläufig ausländische Touristen, kaum des Englischen mächtig, wie sie sich mit der Bestellung der Getränkevarianten des Coffee Shops herumschlugen.
Eine nur scheinbar banale Beobachtung, die in Kollmorgen einen Aha-Effekt auslöste. „Mir wurde durch diese Beobachtung klar, dass ich mich einer persönlichen Herausforderung stellen wollte: Nämlich meine Komfortzone in meinem Heimatland und meiner eigenen Kultur zu verlassen. Ich musste wissen, was so eine Erfahrung mit mir macht – persönlich wie beruflich“, beschreibt sie den weiteren Tag. „Ich verließ den Laden, ging ins Büro zurück und bewarb mich sofort um einen Platz bei Graduate Programs in aller Welt – nur nicht in den USA.“ Wenig später trat sie ihr Studium an einer Wirtschaftsuni in Barcelona an, ohne ein Wort Spanisch zu sprechen.
Von da an nahm ihr Berufsleben die Wendung, die sie schließlich zu Siemens führte: „Ich hatte das Bedürfnis, den Wert meines eigenen Beitrags zu erkennen. Ich war sicher nicht schlecht in dem, was ich tat, doch auch nicht die beste, was mich nicht weiter störte. Aber ich wollte etwas schaffen, das einen nachhaltigen und bedeutsamen Effekt hat.“
Als Sprecherin des Clean-Tech-Arbeitskreises ihrer Uni interessierte sie sich sehr für Solarenergie: „So tauchte Siemens auf meinem Radar auf.“ Sie stieg in der Consulting-Abteilung ein, wechselte dann zu Corporate Strategy, bis ein Auftrag aus dem Vorstand zur Innovierung der Mobilität der Zukunft sich als nächster Meilenstein auf ihrem Weg herausstellen sollte.
„Ich dachte mir: Das ist es. Das Thema, das mich packt. Das mir alle Facetten bietet, die ich mir beruflich und persönlich wünsche: Fragen, auf die noch niemand Antworten hat. Ein Zukunftsthema – technologisch, gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich. Ich will ein Teil davon sein, meinen Beitrag dazu leisten.“
So hält Kollmorgen seit nunmehr drei Jahren als Head of Connected (e)Mobility die Fäden in der Hand, identifiziert und vernetzt Tausende von Experten im Konzern und von außerhalb, um gemeinsam mit ihnen an Konzepten und Lösungen für eine der drängendsten Herausforderungen des Jahrtausends zu arbeiten: Die Gestaltung einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Mobilität. Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen notwendig.
„Jeder Verkehrstote ist einer zu viel“, fasst sie die Mission ihrer Arbeit etwas drastisch zusammen. Konkreter formuliert, ist die Vision, Städten und Gemeinden sichere, zuverlässige, inklusive und saubere Mobilitätsoptionen zu bieten. Darin liegt eine Menge Komplexität. „Deshalb sage ich auch, wir machen ‚Business for Society‘ – mit der Gesellschaft als wesentlicher Zielgruppe“, so Kollmorgen weiter. Dass es dafür kein Patentrezept geben kann, liegt auf der Hand. Die ländliche Region ist anders als die Stadt. Los Angeles hat andere Bedingungen und Bedürfnisse als Miami. Oder Berlin. Oder Jakarta.
Und mit Zwang lässt sich ebenso wenig erreichen wie mit einfachen, isolierten Lösungen: „Es reicht nicht, einfach nur Roller an den Straßenrand zu stellen oder Taxi-Apps auf Smartphones zu bringen – das erweitert vielleicht hier und da die Möglichkeiten, beantwortet aber nicht die übergeordnete Fragestellung: Wie sollen wir Milliarden Menschen pünktlich von A nach B bringen, ohne die Umwelt noch mehr zu belasten und noch mehr Menschenleben zu riskieren?“
Öffentliche Verkehrsmittel stellen dabei ein entscheidendes Mittel dar, es geht aber nicht nur um eine autofreie Stadt, sondern vielmehr um einen integrierten Weg. Das Ziel ist eine smarte Reduktion des Verkehrsaufkommens – was sich natürlich auf Unfallzahlen und die CO2-Bilanz auswirkt.
Die Formel, der Siemens dafür folgt, lautet: autonom, vernetzt, elektrisch und geteilt. Ein Netzwerk, geprägt von selbstfahrenden Fahrzeugen, untereinander und mit der Umwelt im Dialog, elektrisch angetrieben, und im Falle des Individualverkehrs, gemeinsam genutzt. Ein gutes Beispiel für diese neue Form der Mobilität ist das F&E-Projekt HEAT (Hamburg Electric Autonomous Transportation) der Hamburger Hochbahn, an dem Siemens Mobility mit anderen namhaften Partnern beteiligt ist.
Bei dem Pilotprojekt sollen elektrische autonome Busse in der Hafen-City rollen. Kollmorgen ist ein großer Fan von Bussen, die weiter gedacht sind als die heute typischen: Kleine, autonome, elektrische Shuttle-Busse, die sich flexibel und bedarfsorientiert einsetzen lassen, können auch den Menschen Mobilität verschaffen, die sonst oft von der mobilen Teilhabe ausgeschlossen sind. Siemens Mobility liefert für das Projekt die Software und Infrastrukturtechnologie, wobei Radarsensoren und Laserscanner die Schnittstelle zwischen Fahrzeug und Umwelt bilden.
Doch nicht nur die verschiedenen Transportmittel gilt es dabei zu verzahnen, sondern auch die Informationen für jede individuelle Reise bereitzustellen. Dies gilt besonders für Fahrer von elektrischen Fahrzeugen: „Es mag langweilig klingen, ist aber eine Mammutaufgabe: Sicherzustellen, dass ein Fahrer sich eine funktionierende Ladesäule bei seiner Ankunft reservieren, sein Auto laden und bezahlen kann – und zwar alles aus einem Guss.“ Das ist ein Projekt, das Siemens derzeit vorantreibt, Kollmorgen entwickelt dafür die entsprechenden Lösungen. Dabei stellt weniger die Technologie die Herausforderung dar, als vielmehr die zahlreichen Interessen der verschiedenen Beteiligten.
Wer sich Kollmorgens Arbeitsalltag im sprichwörtlichen Elfenbeinturm und bei Leitungskonferenzen vorstellt, irrt: „Dass wir an einem hoch spannenden Thema arbeiten, das auch Visibilität bietet, ist Fluch und Segen zugleich“, beschreibt sie ihre Rolle. „Mein Team und ich entwickeln konkrete Dinge. Manchmal sitzen wir im Headquarter und machen uns – im übertragenen Sinne – die Hände schmutzig, weil wir beispielsweise kleine Einplatinen-Computer zu Prototypen zusammenschrauben. Was ich am meisten an meinem Job schätze ist, dass ich mit vielen klugen Menschen an innovativen Konzepten ebenso wie an großen Veränderungen zusammenarbeite.“
Das ist es, was sie antreibt – und sie zu derjenigen machen kann, die um halb vier Uhr morgens ihre Visionen mit ihrem Team teilen könnte: Nicht theoretische, sondern praktische Lösungen zu finden. Und dafür die richtigen Leute, nicht nur bei Siemens, sondern auch bei Partnerunternehmen, aus der Wissenschaft sowie Regierungen von Ländern und Städten weltweit zusammenzubringen: „Das ist teilweise unglaublich herausfordernd, teilweise kleinteilig und entmutigend. Aber auch unglaublich erfüllend und lohnend – vor allem dann, wenn wir es schaffen, aus einem endgültigen ‚nein‘ zu einer Idee doch noch ein ‚ja‘ zu machen.“
Ob die derzeitige Ausnahmesituation der Ausgangsbeschränkung, in der wir uns befinden, während wir mit Kollmorgen sprechen, längerfristige Auswirkungen auf ihre Arbeit, die Ziele und deren Umsetzung haben würde, möchten wir wissen: „Es werden sich sicherlich Dinge verändern. Kurzfristig werden wir die Nutzung urbaner Räume neu betrachten. Langfristig wird die menschenfreundliche Gestaltung eines flexiblen öffentlichen Nahverkehrs in einer sich zunehmend verdichtenden Welt immer das Ziel bleiben. Und was die kurzfristige Wirkung angeht: In Krisenzeiten sind häufig die bedeutendsten Innovationen entstanden. Denn wir alle nutzen unsere Zeit anders als üblich und die klugen Köpfe werden dies bestimmt auf sinnvolle Art und Weise tun. Darauf freue ich mich.“ ■