Herr Dr. Schlaak, die Invasion der Ukraine, Lieferkettenprobleme, Inflation, Pandemie und der Klimawandel. All diese Krisen sind nur die größten Herausforderungen, vor denen Unternehmen gerade stehen. Was sind aktuell die wichtigsten Fragestellungen?
Das ist sehr branchenabhängig, aber wir sehen, dass aktuell für viele die Themen der steigenden Rohstoffpreise, Zinswende, Inflation und die Absicherung von Lieferketten oben auf der Agenda stehen. Besonders im Fokus steht außerdem der Energiesektor, hier geht es kurzfristig vor allem um Versorgungssicherheit und Preisentwicklung, mittel- bis langfristig ist es der Wechsel zu einer dekarbonisierten Wirtschaft.
Gerade über die Energieversorgung und Energiepreise wird derzeit viel diskutiert. Wie können Unternehmen hier vorsorgen?
Wenn sie sich die Versorgung kurzfristig sichern wollen, gibt es nicht viele Wege. Zum einen können Unternehmen mit Festpreisverträgen Schwankungen ausgleichen, zum anderen mit Optionen oder Versicherungen Verträge mit variablen Preisen absichern. Wenn wir darauf schauen, wie wir im Ernstfall über den nächsten Winter kommen, geht es darum, zu prüfen, ob sich Produktionen teilweise vorziehen lassen – oder Vorprodukte erstellt und eingelagert werden können. Das ist ja einer der Gründe, warum die Lieferketten gerade überlastet sind: An vielen Punkten wird gerade die Lagerhaltung erhöht, um die zukünftige Lieferfähigkeit zu sichern.
Auch ihre Lieferketten stellen Unternehmen vor Herausforderungen. Wie können sie hier reagieren?
Die Versorgungsengpässe bei bestimmten Materialien, aber auch den Mangel an Fachkräften, müssen Unternehmen kurzfristig angehen und Lösungen entwickeln. Das gelingt, indem Unternehmen mehr Wertschöpfung über eigene Mitarbeiter:innen abwickeln und in ihre Logistik-Planung vermehrt von „Just-in-time“ auf „Just-in-case“ umstellen. Wichtig sind in der aktuellen Zeit enge Partnerschaften und enge Kooperation mit den Unternehmen in der eigenen Wertschöpfungskette und die Schaffung von Transparenz entlang der Lieferketten. Ist volle Transparenz entlang von Lieferketten gegeben, so können Unternehmen besser auf Risiken und sich abzeichnende Ausfälle reagieren.
Die Lieferkette war selten zuvor ein so großes Thema wie zurzeit. Kennen Unternehmen ihre Lieferketten überhaupt gut genug, um Risiken frühzeitig zu erkennen und zu reagieren?
Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Branchen, die ihre Lieferkette sehr gut kennen – gerade die, die schon immer mit langen, komplexen Lieferketten gearbeitet haben, wie etwa die Automobilindustrie. Aber auch dort sehen wir, dass sie derzeit an ihre Grenzen kommen und teils reaktiv handeln müssen. In anderen Industrien ist diese Transparenz über die Lieferketten noch deutlich weniger ausgeprägt. Den größten Unterschied gibt es zwischen Großunternehmen und Mittelstand. Gerade im Mittelstand gibt es häufig noch Defizite bei der Transparenz der Lieferkette und auch entsprechenden Investitionsbedarf.
Wie können sich Unternehmen einen besseren Überblick über die Wertschöpfungsketten verschaffen?
Wir sehen derzeit einen Trend, die Verantwortung bezüglich der Steuerung und Ausführung der Supply Chain zu trennen. Oftmals will man nicht mehr, dass derjenige, der die Waren transportiert, auch die Koordination übernimmt. Durch diese Trennung hat man viel mehr den Anreiz, die Supply Chain auch wirklich transparent zu machen. Durch die Komplexitäten der meisten Wertschöpfungsketten ist es dann nur mithilfe von Software möglich, einen Überblick und ein tieferes Verständnis von ihnen zu erhalten. Es gibt viele Tools und Ansätze, die genau das leisten. Dabei gilt es im ersten Schritt, eine Bestandsanalyse vorzunehmen und dann zu klären, wie sich die Risiken für das Geschäftsmodell erfassen lassen. Das bedeutet meist Investitionen in Workflows und die Datenqualität. So erhöhen Unternehmen die Transparenz und können ihre Wertschöpfungskette besser steuern. Bei Deloitte haben wir genau das anhand unseres Connected-Supply-Chain-Ansatzes geschafft, welcher bereits mit verschiedenen OEMs im Einsatz ist.
Verdrängen diese kurzfristigen die langfristigen Herausforderungen?
Der Umbau zu einer dekarbonisierten Wirtschaft darf und kann nicht aufgeschoben werden. Denn dahinter stehen Projekte, die Zeit brauchen. Auch gesamte Lieferketten transparent zu machen braucht Zeit, ist aber eine essentielle Voraussetzung auf dem Weg der Dekarbonisierung der Wirtschaft. Diese Projekte können uns aber auch in der aktuellen Situation schon helfen, wenn Unternehmen beispielsweise Energie effizienter einsetzen oder gleich einsparen. Gleichzeitig macht der Umstieg auf erneuerbare Energien Unternehmen unabhängiger von Marktschwankungen, wenn sie diese Transformation strategisch angehen.
Wenn Lieferverträge nicht mehr eingehalten werden können, belastet das die Beziehung zwischen Zulieferer und Kunden. Wie können Unternehmen auch in volatilen Zeiten Vertrauen aufrechterhalten?
Das ist sehr wichtig – in der Kundenbeziehung ist das gerade einer der ganz entscheidenden Momente. Es geht um Zuverlässigkeit. Es ist eine sehr schwierige Situation, wenn Unternehmen an einen Punkt kommen, an dem sie nicht alle Kunden beliefern können. Es geht um eine nachvollziehbare Kommunikation und auch eine entsprechende zeitliche Taktung. Es hilft dem Partner nicht, wenn er einen Tag vorher erfährt, dass die Lieferung nicht kommt. Wer Prognosen über die Lieferfähigkeit teilt und bei sich abzeichnenden Problemen Alternativen anbietet und lösungsorientiert handelt, bleibt ein vertrauenswürdiger Partner.
Fürchten einige Unternehmen da nicht um die Auftragslage und ihr Image?
Es ist natürlich keine einfache Entscheidung, Probleme zu offenbaren und so auch in eine Situation zu kommen, in der Kunden selbst nach Alternativen suchen. Aber es ist langfristig die bessere Entscheidung. ■